Seit April wohnt der Ukrainer Yuri Melnychuk, 51, mit seiner fünfköpfigen Familie und der seines Freundes im Pfarrhaus der Reformierten Kirche Möhlin. Zu Kriegsbeginn waren sie alle zusammen aus der Ukraine geflohen, nun macht sich der bisherige Unternehmer Gedanken über die Zukunft seiner Landsleute.
Yuri Melnychuk hat mehrere Universitätsabschlüsse – in Hydro-Ökologie, Hydro-Chemie und auch in Ökonomie. Bis vor kurzem leitete er mit seinem Freund und Geschäftspartner ein eigenes Unternehmen, das sich auf Tierfutter und menschliche Gesundheits- und Sporternährung spezialisiert hatte. Am Tag nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine flohen er und sein Partner mitsamt ihren fünfköpfigen Familien ausser Landes. «Ich habe einen zehnjährigen Sohn mit Autismus. Autismus und Krieg geht nicht zusammen», erklärt der besorgte Vater. Autismus habe im Krieg die letzte Priorität, daher wären ihrem Sohn sämtliche Therapien und Hilfen weggefallen. «Jede Familie sucht in so einer Situation ihren eigenen Weg. Uns sind Sicherheit, Stabilität und eine Zukunft für unsere Kinder das Wichtigste.» Daher machten sie sich auf den Weg. Nach viertägiger nervenaufreibender Autofahrt erreichten die beiden Familien das Fricktal, wo sie letztendlich im – extra in einer Hauruck-Aktion hergerichteten – Pfarrhaus der Reformierten Kirche Möhlin gemeinsam einziehen konnten. Nun hat der Ukrainer viel Ruhe zum Nachdenken: «Ich habe Zeit und mein Prozessor arbeitet», schmunzelt er, sucht nach den richtigen Worten. «Ich habe bisher Ideen für meine Firma generiert und ein ganzes Team motiviert. Ich bin gewohnt, für alle zu denken und anderen zu helfen.» Nachdem er in der Schweiz so viel Hilfe erfahren hat, möchte er nun wieder etwas zurückgeben und seinen Landsleuten wie auch den Schweizer Gemeinden, die sie alle aufgenommen haben, helfen. Mit Helfen kennt er sich als Leiter eines Kiewer Rotary Clubs gut aus, Hilfe empfangen hingegen ist neu für ihn.
Ideen von einem Ukrainer für Ukrainer
«Wir brauchen die Integration», ist sich Yuri Melnychuk bewusst, doch er sieht, dass es nicht allen seiner geflüchteten Landsleute gleich gehe. Viele Familien lebten aufgeteilt zwischen der Ukraine und Europa, lebten von Tag zu Tag, ohne Plan, ohne Ziel. «War-laub» nenne sich das, angelehnt ans englische «War»=Krieg und «Urlaub». Yuri Melnychuk möchte daher Wege finden, Sprachprobleme zu lösen sowie Angstzustände und Untätigkeit zu überwinden. Auch für die Schweiz habe dies Vorteile, denn die hiesigen Ukrainer seinen für den Arbeitsmarkt sehr attraktiv. «Wer den langen Weg in die Schweiz kam, hatte genügend Wissen, einen Plan, einen Pass und die finanziellen Ressourcen, diese weite Reise zu ermöglichen. Hierhergekommen sind nicht die Durchschnitts-Ukrainer, sondern oft hoch-gebildete Spezialisten.»
Dennoch hätten viele Ukrainer Hemmungen vor einem Neuanfang, obwohl Umbrüche und Neustarts in den letzten Jahrzehnten in der Ukraine ein ständiger Begleiter gewesen seien. Yuri Melnychuk möchte auf jeden Fall in der Schweiz neu beginnen, da selbst nach Kriegsende von einer Rückkehr in eine sichere Ukraine nicht die Rede sein könne. «Wir lebten im Osten von Kiew. Nur drei Kilometer entfernt, hinter einem Wäldchen, lag die Frontlinie. Unser Haus steht zwar noch, aber der Wald ist vermint und eine Räumung nicht in Sicht. Zudem ist das medizinische System kaputt, da alle Ärzte im Kriegseinsatz sind. Weiterhin werden viele Menschen noch lange am posttraumatischen Syndrom leiden, so dass man sich nicht sicher sein kann, dass kleine Konflikte z.B. im Strassenverkehr nicht eskalieren.» Der Wiederaufbau werde wohl 30 Jahre brauchen, aber so viel Zeit habe der 51-Jährige nicht, um die Zukunft seiner Kinder aufzugleisen.
Perspektive Schweiz
Eine gute Zukunft erhofft sich der Familienvater daher von der Schweiz, deren gutes, stabiles System er an vielen uns alltäglichen Dingen festmacht. Dank seiner ökologisch-hydrologischen Vorbildung fielen ihm hier natürlich sofort die achtsame Mülltrennung auf wie auch die zahlreichen Brunnen mit Trinkwasser. «Als ich die Kinder das erste Mal zur Schule brachte und die Brunnen sah, glaubten mir meine Kinder nicht. Inzwischen legen wir immer zwei Trinkstopps auf dem Schulweg ein und geniessen, dass die Gemeinde so viel für die Leute macht.» Auch Polizisten hätten sie schon gesehen, die Schülern Verkehrsunterricht gegeben hätten.» All diese kleinen Sachen zusammen zeichneten ein gutes System aus.
Positiv aufgefallen sei ihm auch sein aktueller Nachbar, die Reformierte Kirche. In der Ukraine sei er nur selten in die orthodoxe Kirche gegangen, die eher etwas für ältere Leute sei. Hier in Möhlin kämen jedoch auch junge Religions-Schüler und Familien in die Kirche. Ausserdem: «Die reformierte Idee ist gut für die Menschen, denn es gibt eine direkte Verbindung mit Gott» – statt des Umwegs über Geld und Gold, wie dem Interessierten aufgefallen ist. Er gehe gerne in die leere Kirche, ein Ort, der ihm in seiner momentanen Situation Kraft und Energie schenke. Herausgerissen aus seinem getakteten Business-Alltag ist Yuri Melnychuk feinfühlig und nachdenklich. «Wir sind hier nicht zufällig gelandet, vielleicht wurden wir hergeleitet und sollen an diesem Ort nun etwas bewirken.»
Daran arbeitet er nun, sein Prozessor rattert. «Ich habe bereits sieben Ideen im Kopf, was wir machen können, um meinen Landsleuten wie auch den Schweizer Gemeinden zu helfen.» Er denkt, verfeinert, überdenkt und erledigt dazwischen seinen neuen Alltag mit Schulanmeldungen und Arbeitssuche. Wenn er soweit sei, würde er gerne mal mit einem Verantwortlichen über seine Ideen sprechen. Mal sehen, was sich realisieren lasse.
Text für die Neue Fricktaler Zeitung von Birke Luu, 13.06.2022
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Yuri Melnychuk 01-0x
Yuri Melnychuk hat an der Schule Deutsch gelernt, aber: «Ich hätte noch besser aufpassen sollen, doch damals war halt Fussball wichtiger», lacht er.
Fotos: Birke Luu